Die Erwartungen sind hoch. Da kommt mal wieder einer und macht alles anders. Pfeift auf perfekte Dramaturgie, auf Handlung – auf fast alles, was Musiktheater ausmacht. Der französische Dirigent Raphaël Pichon ist mit seinem Chor- und Instrumentalensemble „Pygmalion“ ein junger Kämpfer für Alte Musik, hat ein Faible für Renaissance-Klang und Frühformen der Oper. Die Anfänge interessieren ihn – wie aus einer Aneinanderreihung von Renaissance-Liedern um 1600 plötzlich Oper entsteht, und wie man diese genialischen Schöpfungen ins moderne Opernhaus rettet.
Es gehe nicht nur um den großen Claudio Monteverdi, betont er in einem Vorab-Gespräch zu seiner neuen Bühnenproduktion „Le lacrime di Eros“ in Amsterdam, sondern um die vielen Komponisten im Umfeld, die durch ihre Vorarbeiten auch Monteverdi zu dessen perfekter und in sich vielfältiger Opernform verholfen haben. Zu komplexen Gebilden mit Vorspiel und Tanzeinlagen, erzählenden Monodien, traurigen Lamenti und ausgelassenen Chorszenen. Auf unterschiedlichsten Ebenen wird eine ergreifende Geschichte erzählt.
Und dann sitzt man im Nationaltheater von Amsterdam und wartet vergeblich auf die große Geschichte. Le lacrime di Eros ist stattdessen eine Folge „symbolischer Bilder, von denen jedes eine andere negative Seite der Liebe zeigt“. Es sind vor allem musikalische Bilder, aber weil wir heute den damaligen musikalischen Zeichen bestimmte Emotionen nicht mehr ohne Weiteres zuordnen können, ist eine intelligente Regie gefragt. Die muss den Inhalt klar veranschaulichen, ohne die vielsagende Mehrschichtigkeit dieser Kunstform in plumpen Bildern plattzuwalzen. Denn bei welchem anderen Thema als dem des Eros geht es so sehr um Doppeldeutiges, Verwirrendes, Ungesagtes, Vorgetäuschtes, Unverstandenes, Verborgenes, Missverstandenes, Unaussprechliches – das alles dennoch Bedeutung hat?
Regisseur Romeo Castellucci findet beim gemeinsamen Projekt mit Pichon düstere Bilder, dunkle Nebelräume, lässt die Protagonisten in fahlem Licht recht einsam mitten auf der Bühne agieren und öfter noch: nicht agieren, sondern nur dastehen und sie Gesang sein lassen. Nichts soll davon ablenken, dass die Musik hier der eigentliche Agitator ist, dass auch die stärksten Bilder – für die Castellucci normalerweise steht – nicht jene Intensität und Unmittelbarkeit erreichen können, die dem Gesang und oft auch der Sprache der Instrumente eigen sind.
Auch die stärksten Bilder verblassen vor der Intensität der Musik
Es ist die Stunde der Musik, wenn es um psychische Grenzerfahrungen geht, wie sie sich hier auch im Physischen, in allerlei Körperspielen symbolisch spiegeln. Es ist ein Panoptikum der Verweigerung in sieben Bildern, ein schmerzhaftes Nachdenken über das Gefühl, das den Menschen über sich hinauswachsen lässt und ihn gleichzeitig zutiefst erniedrigt. Denn auch das freiwillige Sich-Ausliefern ist ein Ausgeliefertsein und das Eintreten in eine gottlose Gegenwelt. „Contra mondo“ heißt folglich auch das letzte, das siebte Bild. „Stravaganza d’amore“ ist das erste Musikstück darin: die ausschweifende Liebe, die Verschwendung, die Extravaganz.
Raphaël Pichon kam nach mehrjähriger Forschung in Florenz zu dem Schluss, dass man zum Thema „Eros“ unterschiedliche Meister sprechen lassen muss. Er hat Musik von Girolamo Fantini, Luca Marenzio, Giulio Caccini, Jacopo Peri und weiteren Komponisten der Zeit mit den Klängen Monteverdis zu einem Mosaik verbunden, das wie aus unterschiedlichen Blickwinkeln zusammengesetzt scheint. Das ist nicht ganz so revolutionär, wie es klingt, in Renaissance und Barock war diese Form eines Pasticcio gängige Praxis, aber hier geht es nicht nur um praktische Handhabe, sondern um die Collage als Kunstform. Und auf einmal wird das Gebilde so lebendig wie frisch komponiert.
Die Alte-Musik-Szene hat sich die längste Zeit darauf konzentriert, die Werke der Großmeister penibel zu rekonstruieren, statt die Musik so aufregend zu gestalten, wie sie seinerzeit wirkte. Man suchte den Originalklang, bemühte sich um historische Instrumente und förderte mit zunehmender Könnerschaft der Instrumentalisten auch für den Laien Erstaunliches zutage. Vor allem die Erkenntnis, dass die Musikgeschichte vielleicht doch nicht eine einzige linear ansteigende kulturelle Entwicklung ist – vom Einfachen zum immer Komplexeren, und ein kleines Originalklangensemble aufregender klingen kann als das größte Symphonieorchester.
Nikolaus Harnoncourt, Philippe Herreweghe, Ton Koopman, Christopher Hogwood und andere Originalklang-Meister haben die letzten 30 Jahre des 20. Jahrhunderts geprägt. Nun leistet man mit einer wieder ganz neuen Herangehensweise nicht nur philologische Kärrnerarbeit, sondern verhilft auch der Originalklang-Geschichte zu neuen Perspektiven. Überdeutlich zeigt sich das in Frankreich, dessen Alte-Musik-Szene gerade dabei ist, die Vorreiter-Rolle zu übernehmen.
Pichon nimmt sich Freiheiten, die bisher tabu waren
Vor fünf Jahren setzte Simon-Pierre Bestion einen Meilenstein mit seiner Neuaufnahme von Claudio Monteverdis legendärer Marienvesper. Endlich ging es nicht mehr nur um einen historisch fundierten Orchesterklang, sondern auch um den Gesang, der in vorklassischer Zeit allemal wichtiger war als der instrumentale Rahmen. Bestion geht dabei völlig neue Wege, bezieht unübiche Gesangsformen ein – das herausragende belgische Ensemble Graindelavoix mit Björn Schmelzer mag Vorbild gewesen sein, das ungewöhnlich expressive alte Singtechniken einbindet, wie sie zum Teil in Volksmusiktraditionen des Mittelmeerraumes erhalten blieben -, kehrt dem bis dahin vorherrschenden protestantisch gehemmten Kirchenklang den Rücken und wendet die Musik in ein bodenständiges paradiesisches Diesseits. Herbe Stimmen, Lust an unorthodoxen Verzierungskünsten, reine Sangesfreude dominieren den neuen Stil – es darf auch mal ein wenig schräg klingen.
Das ist dem deutschen Alte-Musik-Spezialisten Reinhard Goebel eher fremd. Er versucht, aus musikwissenschaftlichen Erkenntnissen überzeugende Aufführungen zu gestalten. Seine Einspielung von Bachs Brandenburgischen Konzerten von 1987 ist vielleicht die präziseste und durchsichtigste, und dabei geradezu musikantisch beschwingt. Dreißig Jahre später hört sich das anders an. Die neue Aufnahme ist schneller, lauter, klangbombastischer, auch ein bisschen vulgärer – jedenfalls noch ungestümer als Simon-Pierre Bestion in Bachs d-Moll-Konzert von 2023 mit seinem Ensemble „La Tempête“ – trotz des recht unaufgeregten Cembalisten.
Fühlt sich Goebel von der französischen Konkurrenz herausgefordert? Im persönlichen Gespräch klingt das nicht so, er sieht zu viele Schwächen in der neuen Klangmode, die ihm zu sehr auf Effekt abzielt und zu wenig auf Kenntnis der Werke beruht. In seiner jüngst erschienenen Aufsatzsammlung „Der Kopf macht die Musik“ kann man die Einwände des scharfzüngigen Kritikers pseudowissenschaftlicher Ambitionen sehr unterhaltsam nachlesen.
Es ist nicht alles aufregend, was jetzt aus Frankreich kommt, auch Pichons Aufnahme von Monteverdis Marienvesper verfängt weniger, in Amsterdam geriet manches zu zäh, aber einiges verblüfft doch nachhaltig. Man nimmt sich jetzt Freiheiten, die bisher tabu waren. Vincent Dumestre und sein Ensemble „Le Poéme Harmonique“ haben sich etwa aus Monteverdi-Originalkompositionen eine eigene Marienvesper zusammengestellt und mit Vor- und Zwischenspielen angereichert.
Das Ergebnis beeindruckt insbesondere deshalb, weil die hier entfaltete Klangpracht nicht Selbstzweck ist, sondern in engem Zusammenhang mit Textdeklamation und Textinhalt steht. Dagegen wirken die Produktionen aus Deutschland oft ein wenig müde. Ist es die Vorliebe für klingende Musikwissenschaft, die Seriosität garantieren soll oder die protestantische Tradition, das Prächtige zu meiden, die schiere Freude mit Misstrauen zu parieren? Im katholisch geprägten Frankreich ist man offenbar nicht der Ansicht, dass die Erde ein Jammertal bleiben muss, zumindest erlaubt man sich, so gut es geht davon abzulenken.